A Life in a Year
Ich denke, diese Überschrift fasst es wohl am besten zusammen, denn das war mein Auslandsjahr in den USA zu hundert Prozent.
Ich denke, diese Überschrift fasst es wohl am besten zusammen, denn das war mein Auslandsjahr in den USA zu hundert Prozent. Hey du, ich bin Lucie Joe, 16 Jahre alt und ich war ein Jahr lang in Colorado, genauer gesagt in dem kleinen Ort Byers. Was ich dort erlebt habe und warum es eben ein sogenanntes »Life in a Year« war, davon möchte ich dir hier gerne erzählen.
Wie schnell doch dieses Schuljahr als Sophomore in meiner High School und das Leben in meiner großartigen Gastfamilie vergangen ist – unfassbar! Aber wie sagt man? Manchmal muss man ein Kapitel schließen, um in der Lage zu sein, ein neues aufschlagen zu können. Wobei ich sagen muss, dieses Abenteuer meines Lebens einfach so abzuschließen, ist unmöglich. Ich werde noch mein ganzes Leben lang gerne an diese Zeit zurückdenken und davon zehren.
Der letzte Monat
Den letzten Monat meines Auslandsjahres habe ich noch einmal total genossen und versucht, so viel Zeit mit meiner Gastfamilie und meinen Freunden zu verbringen, wie ich nur konnte. Neben kleineren Ausflügen mit meiner Host Family und gemeinsamen Filmabenden besuchte ich zusammen mit einigen Freunden und meiner Gastschwester noch einen der bekanntesten Freizeitparks Colorados namens »Elitch Gardens«. Außerdem gingen wir alle gemeinsam schwimmen.
Eines meiner Highlights im letzten Monat war aber nicht der Freizeitpark-Besuch, sondern mit meinen Freunden ganze zwei Stunden ausgelassen im Regen Colorados zu tanzen. Eigentlich regnet es hier so gut wie nie und es ist deshalb das ganze Jahr über sehr, sehr trocken. Das machte den Regen soooo besonders. Es war einfach magisch. Ich habe es genossen, nicht über morgen nachgedacht und schon gar nicht daran, dass an diesem Tag in weniger als einer Woche mein Abenteuer USA vorbei sein, ich meine Freunde zurücklassen und schon wieder im Flieger zurück nach Deutschland sitzen würde. Diese traurigen Gedanken wurden vom Regen einfach weggewaschen und ich konnte diese Zeit unbeschwert mit meinen Freunden genießen.
Koffer packen
Leider musste ich aber den Tatsachen am nächsten Tag ins Auge schauen, denn nun hieß es für mich: Koffer packen. Und das, das kann ich dir sagen, war eine »echte Geburt«. Mir fällt es generell schwer, Sachen wegzuwerfen oder mich von etwas zu trennen. Schließlich hatte ich über das Jahr so viele Andenken gesammelt, dass die zwei Koffer, mit denen ich ohnehin schon angereist war, nicht mal ansatzweise mehr ausreichten. Mir blieb tatsächlich nichts anderes übrig, als noch zwei zusätzliche Koffer zu kaufen.
Ich weiß, ich weiß, vier Koffer sind schon eine ganze Menge, aber ich konnte all diese Erinnerungen, die ich gesammelt hatte, unter keinen Umständen zurücklassen, da sie für mich unbezahlbar sind. Also, ein Tipp von mir an dich: Starte mit dem Kofferpacken immer mindestens eine Woche vor deinem Flug, damit du nicht am letzten Tag ins Schwitzen kommst.
Abschied nehmen
Ein Thema, das ich am liebsten ganz vermieden hätte, da ich ein sehr emotionaler Mensch bin. Erst einmal musste ich dafür sorgen, dass genügend Taschentücher vorhanden sind. Weil es mir wichtig war, all meine Freunde vor meiner Abreise noch einmal zu sehen um ihnen persönlich »Tschüss« sagen zu können, haben wir drei Tage vor meiner Abreise noch eine Goodbye-Party veranstaltet. Es musste keine aufwendige Party sein. Ich wollte nur noch ein letztes Mal ganz bewusst Zeit mit meinen amerikanischen Freunden verbringen.
Wir alle saßen zusammen, haben über unsere Sommerpläne geredet, haben einen Spaziergang im Sonnenuntergang gemacht, haben noch ein letztes Mal Volleyball gespielt oder lagen auf dem Trampolin und haben in den Sternenhimmel geschaut, ein wunderschöner, für mich unvergesslicher »Bilderbuchmoment« – magischer hätte es wohl nicht sein können und ich in diesem Moment nicht glücklicher. Mir wäre es recht gewesen, wenn der Abend kein Ende genommen hätte und wir dem Unvermeidlichen hätten aus dem Weg gehen können.
Aber leider gehen auch die schönsten Abende einmal zu Ende. Und so umarmte ich einen nach dem anderen – gefühlte Stunden vergingen, da ich sie alle nicht gehen lassen wollte. Selbst jetzt noch, inzwischen vier Wochen später und wieder zurück in Deutschland kommen mir hier beim Schreiben schon wieder die Tränen. Dieser Abschied ist mir unendlich schwergefallen, weil ich so dankbar für all meine neugewonnenen Freunde dort bin. In dieser »kurzen« Zeit habe ich unfassbar schnell Anschluss gefunden und hatte das Glück viele herzliche Menschen kennenzulernen, die ich liebe und wertschätze. Da einfach »Tschüss« zu sagen mit der Ungewissheit, wann und ob überhaupt man sich jemals wiedersehen wird, war unfassbar hart.
Hier vertraue ich einfach mal optimistisch auf das Sprichwort, dass man sich im Leben immer (mindestens) zweimal sieht. Zurückkommen werde ich auf jeden Fall, die Frage ist eben nur wann. Natürlich bin ich mir aber auch bewusst, dass jeder Moment einmalig ist und es nie mehr so sein wird wie es in diesem Jahr war, da auch ihre Leben weitergehen, viele anfangen zu studieren und Byers möglicherweise sogar verlassen werden. Bei Antritt meines Auslandsjahres hätte ich mir nie träumen lassen, einen solch tollen Freundeskreis zu gewinnen. Schweren Herzens musste ich dann aber schließlich alle gehen lassen. Kurze Zeit später lag ich auch schon völlig erschöpft in meinem Bett, konnte aber natürlich nicht einschlafen, auch wenn ich hundemüde war, weil ich Kopfschmerzen vom ganzen Weinen hatte. Tja, das hat man eben davon, wenn man so emotional drauf ist, wie ich es bin!
Ankunft
Dann kam auch schon der Tag, an dem ich mich dann tatsächlich auch noch von meiner Gastfamilie verabschieden musste und der Tag, an dem nun ganz offiziell mein Auslandsjahr ein Ende fand. Sicherlich kannst du dir jetzt ein ungefähres Bild davon machen, wie schwer es mir letztendlich gefallen ist, mich von meiner Gastfamilie, die inzwischen zu meiner zweiten Familie geworden war, zu verabschieden. Es flossen ganze Tränenbäche … Meiner spanischen Gastschwester hatte ich bereits einige Stunden zuvor »Tschüss« sagen müssen, da sie schon am Vormittag desselben Tages in den Flieger gestiegen war, der sie zurück in ihre Heimat Spanien bringen würde.
So hatte nun auch ich einen langen Rückflug zurück nach Deutschland, meiner Heimat, vor mir. Nach einem zehnstündigen Flug betrat ich dann zum ersten Mal seit 11 Monaten wieder deutschen Boden und hörte deutsche Lautsprecherdurchsagen am Flughafen, was in meinen Ohren völlig fremd klang, da mir inzwischen die englische Sprache wohl sehr in Fleisch und Blut übergegangen war, so dass mir selbst meine Muttersprache fremd vorkam. Auch einen Monat später fallen mir manche deutsche Redewendungen nur schwer ein, amerikanische dagegen habe ich parat.
Und dann war es so weit: Nach einem Jahr konnte ich meine Familie endlich wieder in die Arme schließen, die bereits auf mich wartete. Sie trugen alle einheitliche, aufwendig selbstbedruckte T-Shirts mit der Aufschrift »I always hold you in my heart but today I will hold you in my arms« auf der Brust und auf dem Rücken stand: »The best part of my day is you coming home« geschrieben. In der Hand hielt jeder zu meiner Begrüßung eine Rose. Damit hatte ich natürlich nicht gerechnet, die Müdigkeit war vergessen und stattdessen hätte ich gleich wieder anfangen können, zu weinen.
Zuhause angekommen erblickte ich vor unserem »Mehr-Generationen-Haus« (hier leben auch meine Großeltern) direkt ein Schild mit der Aufschrift »Welcome Back – Herzlich Willkommen«. Was meine Familie für mich alles schon Wochen vorher organisiert, gebastelt und vorbereitet hatte, ist echt unglaublich. Dafür bin ich unendlich dankbar und habe mich wahnsinnig darüber gefreut.
Meine ersten Wochen zurück in Deutschland
Wieder zurück in Deutschland zu sein fühlt sich für mich immer noch fremd und echt komisch an. Selbst nach vier Wochen würde ich noch nicht behaupten, wirklich hier angekommen zu sein oder mich wieder an den deutschen »Lifestyle« gewöhnt zu haben. Jetzt heißt es wieder, den Einkauf selber einzutüten (nicht wie in den USA – alles von einem Service-Mitarbeiter am Ende des Kassenbandes alles verpackt zu bekommen), keine Countrymusik im Radio mehr rauf und runter zu hören, kein Football-, Basketball- oder Baseball-Spiel ohne Zeitverschiebung schauen zu können oder auch keine »Refills« (kostenloses Auffüllen von Getränken) mehr in Restaurants. Dafür heißt es aber auch endlich wieder frisches, knuspriges Brot genüsslich kauen zu dürfen, mich über Fußball unterhalten, zum nächsten Einkaufsladen mal eben zu Fuß laufen oder eben auch endlich wieder zeitlich »eng getaktete« öffentliche Verkehrsmittel nutzen zu können.
Also, wie du siehst, gibt es immer Vor- und Nachteile. Es kommt nur darauf an, wie man mit ihnen umgeht und sich derer bewusst wird. In diesen vergangenen vier Wochen habe ich viel Zeit mit meiner Familie verbracht, meine Freunde haben eine »Welcome Back«-Party – organisiert von meiner Mama – mit mir gefeiert, und natürlich gaaaaaanz viel Brot und Brötchen gegessen. Ich facetime regelmäßig mit meiner zweiten Familie in Amerika und meinen amerikanischen Freunden, denn ich möchte auf keinen Fall den Kontakt zu ihnen verlieren, genauso wenig wie zu meiner spanischen Gastschwester. Ich habe mir aber vorgenommen, mir mit dem Eingewöhnen keinen Stress zu machen und alles in Ruhe anzugehen – amerikanisch »chillig« eben und nicht typisch deutsch »gehetzt und gestresst«.
Um ehrlich zu sein
Um ehrlich zu sein, habe ich – so glaube ich zumindest – nach der Abschiedsparty in den Staaten mein Denken »ausgeschaltet«. Ich wollte nicht mehr daran denken, dass ich bald knapp 9.000 km entfernt und auf einem anderen Kontinent in einer anderen Zeitzone lebe. Ich wollte nicht, dass dieser Schmerz mich auffrisst (so dramatisch es auch klingt, aber so ein Abschied tut eben verdammt weh). Auch jetzt noch habe ich das Gefühl, das alles noch nicht so richtig realisiert, geschweige denn verarbeitet zu haben.
Um ehrlich zu sein, habe ich das Gefühl, das vergangene Jahr war ein Traum, ein viel zu guter Traum, um wahr zu sein. Es ist alles gefühlt so unendlich weit weg – was nicht an der räumlichen Entfernung liegt! Ich bin jetzt wieder in einem anderen Umfeld, in einem anderen Land, wo vieles eben auch tatsächlich ganz anders läuft. Ich bin zurück in meinem alten Leben und, wenn die Sommerferien dann zu Ende sind, im Alltag. Man sagt ja, man ist zurück in seinem »gewohnten« Umfeld, aber um ehrlich zu sein, ist Byers auch zu meinem gewohnten und geliebten Umfeld geworden. Ich glaube, so richtig werde ich hier nie wieder ankommen, ein Teil von mir ist wohl in Byers geblieben.
Um ehrlich zu sein, ist es alles andere als einfach, wieder zurück zu sein. Das Schwierige ist, dass hier keiner die Leute aus Amerika kennt, von denen ich pausenlos rede. Ich hatte mit meiner Gastfamilie ganz eigene Rituale, die ich hier nun nicht mehr habe und schmerzlich vermisse. So ist es dann schon mal passiert, dass ich etwas hier gemacht oder gesagt habe, was natürlich keiner verstanden hat oder nachvollziehen konnte. Weißt du, was ich meine? Zuhause verstehen auch nur wenige, was es für mich wirklich bedeutet, wenn ich vom High School Spirit oder von langen Entfernungen rede. Natürlich kann man sich so etwas immer vorstellen, aber es dann doch letztendlich persönlich vor Ort erlebt zu haben ist etwas ganz anderes und für andere oft schwer nachvollziehbar.
Um ehrlich zu sein, ist es ganz schön komisch und ungewohnt, wieder zurück zu sein und tatsächlich ein wenig fremd.
Fazit
A Life in a Year, 332 Tage – Ein Jahr, das ich niemals vergessen werde.
Rückblickend erlebte ich tatsächlich das bisher beste Jahr meines Lebens! Es war eine unvergessliche Reise, für die ich so dankbar bin. Jeder hat mir geraten, genieße jeden einzelnen Moment, denn schneller als du denkst, wird alles vorbei sein. Es könnte nicht wahrer sein. Dieses Jahr verging rasend schnell – völlig verrückt. Das vergangene Jahr war angefüllt mit neuen Leuten, neuen Erfahrungen, neuen Orten, von denen ich nie geglaubt hätte, sie während eines Auslandsjahres zu besuchen und selbstverständlich auch vielen neuen Herausforderungen.
Bevor ich in dieses Abenteuer Auslandsjahr aufgebrochen bin, hatte ich nur einen Anspruch an mich selbst: »Probiere einfach alles aus, was du in Deutschland nicht machen kannst, sonst wirst du es später bereuen, diese einmaligen Chancen nicht genutzt zu haben. Denn du weißt nie, ob sich dir eine solche Gelegenheit noch einmal bietet.« Letztendlich war ich ja auch eine Stipendiatin. Ich kann heute stolz und selbstbewusst behaupten, dass ich nichts bereue – auch nicht zu diesen schwierigen Corona-Pandemie-Zeiten mein Auslandsjahr bewusst angetreten zu haben. Ich bin unendlich dankbar für endlose Abenteuer, Nächte, von denen ich wünschte, sie hätten ewig gedauert und Tage voller Lachen.
Das vergangene Jahr hat mir gezeigt, dass anders nicht unbedingt schlechter heißt, auch im Zusammenhang mit der Pandemie. Vielleicht war mein Auslandsjahr anders, aber ich musste lediglich nur auf manche Dinge verzichten, u.a. die Orientation Days in New York und auf einen Familien-Trip nach Kalifornien und Arizona. Das war natürlich ausgesprochen schade, aber es hat mich gelehrt, dass man nicht immer alles machen/haben muss. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass dieser Verzicht immer für etwas Anderes, wie etwa mehr Zeit mit meinen Freunden verbringen zu können, gut war. Ich habe auch gelernt, mir selber mehr Zeit zu geben, mich an Veränderungen zu gewöhnen, dass es auch mal okay ist, sich zu entspannen und die »Füße hochzulegen« oder dass man nicht immer alles haarklein organisiert haben muss.
Das Jahr hat mir viel über mich selbst gelehrt. Es hat mir gezeigt, dass Freundschaften keine Grenzen haben, egal wie weit man entfernt wohnt oder wie anders man doch scheint. Es hat mir so viel gebracht, ich glaube, vieles hätte ich über mich selbst nicht herausgefunden, wäre ich nicht ins Ausland gegangen und hätte mich diesen großen Schritt nicht getraut, alleine zu machen. Meine Offenheit hat mir dabei geholfen, mich schnell an eine neue Kultur anzupassen und in einer völlig fremden amerikanischen Familie meinen Platz zu finden. In meinem Auslandsjahr habe ich meine Komfortzone verlassen und bin über mich selbst hinausgewachsen, bin viel selbstständiger, selbstbewusster, kurz – erwachsener geworden. Diese Erfahrungen kann mir keiner mehr nehmen. Mein Abenteuer »Auslandsjahr USA« hat die Weltneugier in mir erst noch so richtig entfacht.
An dieser Stelle möchte ich mich bei all denjenigen, aber vor allem bei meiner Familie, bedanken, die mich in meinem Wunsch nach einem Auslandsjahr stets bestärkt haben und ohne die das alles gar nicht möglich gewesen wäre. Auch an Stepin geht ein riesiges Dankeschön. Ohne das Stipendium wäre mein Traum vom Auslandsjahr in Amerika eben nur ein Traum geblieben.
Wer jetzt Lust darauf bekommen hat, mein Jahr im Einzelnen mit all seinen Highlights anzuschauen, der kann gerne meinen Instagram-Account @lj_abroad.usa besuchen und meine sehr ausführlichen Berichte auf dem Weltneugier-Blog von Stepin lesen, auf welchem ich seit letztem Jahr Status-Updates von meinem Auslandsjahr gegeben habe.
Ich wünsche allen zukünftigen Austauschschülern und vor allem denjenigen, bei denen das Abenteuer jetzt losgeht, gaaaaanz viel Spaß. Es wird die Zeit eures Lebens, versprochen. Genießt jede Sekunde, denn die Zeit vergeht schneller, als ihr denken könnt. Seid mutig, weltoffen, neugierig und unvoreingenommen.
Das war es von mir und meinem Auslandsjahr. Ich hoffe, dir hat es Spaß gemacht, meine Reise zu verfolgen.
Liebe Grüße
Deine Lucie Joe